„Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen“

Bildungs- und Teilhabeleistungen für bedürftige Kinder müssen seit zehn Jahren bei den Jobcentern beantragt werden: Eine Studie belegt, dass damit in NRW nur jedes siebte leistungsberechtigte Kind erreicht wird.

Auch der SkF Gütersloh war vertreten durch Melanie Stitz am Fachgespräch beteiligt.

Paderborn, 18.03.2020 (cpd) – Vor mehr als zehn Jahren wurde die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht dazu „verurteilt“, bei der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende die besonderen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen. Das Ergebnis war das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT). 15 Euro pro Monat sind damit aktuell beispielsweise für „soziokulturelle Teilhabeleistungen“ wie Vereinssport, Musikunterricht oder auch Nachhilfe vorgesehen. Kommen diese Leistungen der Jobcenter überhaupt bei Betroffenen an? Und: Ist dieses System generell geeignet, das Thema Bildungschancen für benachteiligte Kinder zu bearbeiten? Darüber diskutierten jetzt bei einem (digitalen) Fachgespräch des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn Fachleute aus Politik, Arbeitsverwaltung und sozialer Arbeit. Anlass bot eine neue Untersuchung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.


Leider gibt es keine verwertbare Statistik, die die Zahl der Anspruchsberechtigten bzw. der Personen, die diese Leistungen tatsächlich in Anspruch nehmen, eindeutig nachweist. Deshalb hat die Paritätische Forschungsstelle zwischen Mai 2019 und April 2020 bundesweit bei allen Jobcentern auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte erfragt, wie vielen Kindern zwischen sechs und 15 Jahren aus Haushalten im SGB-II-Bezug ein Leistungsanspruch nach dem BuT bewilligt wurde. Das Ergebnis: Die weitaus meisten Kinder aus den betroffenen Haushalten profitieren nicht vom BuT, in NRW ist es nur jedes siebte Kind aus dieser Gruppe (14,3 Prozent), dem ein Anspruch auf eine Leistung bewilligt wird. Obwohl 2019 die Leistungen für soziokulturelle Teilhabe von zehn auf 15 Euro erhöht wurden, brachte auch dies keinen Anstieg der Bewilligungsquote.


Seit Einführung des BuT hat sich dieses niedrige Niveau nicht wesentlich verändert; als Gründe waren von Anfang an u. a. die bürokratischen Hürden kritisiert worden. Dr. Joachim Rock von der Paritätischen Forschungsstelle: „Die Hoffnung, dass es sich dabei nur um Kinderkrankheiten des Gesetzes handelt, die beseitigt werden können, hat sich nicht erfüllt.“ Für ihn wäre das BuT besser bei den Jugendämtern als bei den Jobcentern aufgehoben. „Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen.“ Für viel Gesprächsstoff unter Experten sorgen Details der Studie, insbesondere auffällige regionale Abweichungen: So erreicht das Jobcenter der Stadt Hamm 94,2 Prozent aller potenziell leistungsberechtigten Kinder – ein bundesweiter Spitzenwert. Während andere Jobcenter bisweilen mit mehrseitigen Formularen für die Leistungsbeantragung aufwarten, setzt man in Hamm auf eine niedrigschwellige Bonuskarte, die „youcard“, mit der die beteiligten Akteure wie Sportvereine Leistungen abrechnen können; außerdem arbeiten im Jobcenter Bildungsbegleiter der Caritas mit. Auch die Schulen sind eng eingebunden. „Das ist schon ein gutes System“, berichtet Margit Heile vom Caritasverband Hamm.


Doch ganz so einfach lässt sich diese Praxis nicht auf andere Regionen übertragen, so gehört etwa das Jobcenter Hamm zu den wenigen kommunal organisierten Einrichtungen. Auf der anderen Seite bedeuteten auch niedrige Quoten der BuT-Inanspruchnahme nicht unbedingt weniger Teilhabe für betroffene Kinder. In ländlichen Regionen, wo die Quoten zwischen vier (z.B. HSK) und sechs Prozent (z. B. Kreise Lippe, Höxter, Soest, Minden) liegen, könne es auch bedeuten, dass es kostengünstige oder sogar kostenfreie Bildungs- und Teilhabeangebote für bedürftige Familien gibt.


Wo es eine enge Zusammenarbeit der im BuT angesprochenen Akteure gibt, scheint es auch außerhalb des „Musterortes“ Hamm zu gelingen, bürokratische Hürden zu senken und den Zugang zu erleichtern. Etwa wenn wie im Jobcenter Paderborn auch bei Standard-Beratungen im Kundencenter immer auch ein für BuT-Leistungen zuständiger Mitarbeiter zusätzlich präsent ist, wenn Jobcenter-Mitarbeiter mit der Schulsozialarbeit vernetzt sind oder mit Angeboten wie Schulmaterialbörsen der Wohlfahrtsverbände.


Dennoch wurden bei dem Fachgespräch grundsätzliche Bedenken gegenüber dem BuT laut: So kennen auch nach zehn Jahren die weitaus meisten der leistungsberechtigten Familien immer noch nicht ihre Ansprüche. Und: Die BuT-Leistungen selbst seien zu niedrig angesetzt. „Die Höhe dieser Leistungen entspricht nicht dem Lebensalltag“, betont Christoph Eikenbusch vom Diözesan-Caritasverband. „Unvorhergesehene Ereignisse bildet das Gesetz nicht ab.“ Ob eine pauschale Kindergrundsicherung nicht der bessere Weg ist, werde im Vorfeld der diesjährigen Bundestagswahl noch weiter diskutiert werden müssen. „Teilhabe ist für die Caritas ein zentraler Begriff“, erklärt Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig. Es gehe darum, den Teufelskreis von Armut und fehlenden Bildungschancen zu durchbrechen.


Foto: Auch Vereinssport soll mit den Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes für bedürftige Kinder möglich sein. Dafür stehen den Betroffenen 15 Euro im Monat zur Verfügung. Mit diesem Betrag ließen sich zwar Vereinsbeiträge bezahlen, Sportschuhe seien aber schon nicht mehr drin, kritisieren Experten aus dem Arbeitsfeld Armut und Teilhabe bei einem Fachgespräch des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn. (Symbolbild: cpd / Jana Timmerberg)